Aufzeichnungen eines Hagestolzen
Von
Karl Frenzel
Leipzig
Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.
Übersetzungsrecht vorbehalten
Wie wenig gehört doch dazu, das Leben eines Menschen,sein Dichten und Trachten aus der Bahn, die erJahre lang, sei es im Schneckengang, sei es im Eillauf,verfolgt hat, zu lenken! Das Kleinste genügt, eine Wandlungin seinem Herzen hervorzurufen, ein plötzlicher Eindruckentscheidet über sein Geschick. Weder Alter noch Welterfahrungschützen ihn davor, der Leidenschaftliche stehtebenso unter der Herrschaft einer dunklen Macht wie derGelassene. Und so könnte ich in diesem belehrsamen Ton,mit dem ich mich nur selbst zur Ruhe zwingen will, nochlange fortfahren und mit ähnlichen Gemeinplätzen vieleSeiten anfüllen, auch Beispiele aus der alten und neuenGeschichte reichlich anführen: Leben und Welt blieben, wiesie sind, unberechenbar, verworren, trotz ihrer ewigen Wiederholungenund ihrer eingeborenen Nichtigkeit, für den, dergerade lebt und die Welt anschaut, ein wundersames Räthsel.Nicht umsonst bin ich fünfzig Jahre geworden – ichweiß, daß mir nichts geschehen ist, was nicht Tausendenvor mir auch geschehen, und als Arzt bin ich obendreinnoch in der Lage, mir neun Zehntel aller Vorgänge immenschlichen Körper und damit auch in seiner Seele bessererklären zu können als die Mehrzahl meiner Mitgeschöpfe:aber einmal sitzen wir Alle auf einer Sandbank fest.
Wenn man in einer großen Hauptstadt ein Jahrzehntin derselben Wohnung, ungestört und unbelästigt, weilt, istman in meinen Augen ein vom Glück besonders begünstigterSterblicher. Ich war ein solcher Glücklicher. Abernicht ganz ohne eigenes Verdienst, setze ich hinzu. MeinHauswirth war ein seltener Charakter: er haßte Hunde,Klaviere und kleine Kinder. Unbarmherzig schloß er Alle, die mit diesen drei Dingen belastet waren, von seinem Paradieseaus. Selbstverständlich wußte auch er unter Umständenein Auge und ein Ohr zuzudrücken. Allein in derHauptsache hörte man hier doch nie einen Hund ungebührlichbellen, nie Kinder schreien und nie um MitternachtKlaviergeklimper. Gleichheit der Gesinnungen hatte unszusammengeführt: ich war ein Fanatiker der Stille wie er.Ein Hagestolz, ohne Kind und Kegel, ohne Pianino undPudel, aber wohlhabend, ein in der Stadt leidlich bekannterMann, war ich ihm als Miether willkommen. UnserVerhältniß wuchs zu einem innigen aus: er im ersten, ichim zweiten Stock, wetteiferten wir, Einer den Andern anStille zu übertreffen. Meine Stiefel pflegten öfters zuknarren, und mein Diener, der jähzornigen Gemüths ist,hatte die üble Gewohnheit, wenn er im Unrecht war, dieThüren krachend ins Schloß zu werfen. Gewiß unleidlicheStörungen – zum Glück indeß hielt mir mein Freundund Wirth das Gleichgewicht. Er war ein großer Politikerund Vereinsmann, natürlich Fortschrittspartei, mitstark und ingrimmig betonter Abneigung gegen die Socialdemokraten,und wenn er in jeder Woche zweimal in derzwölften Stunde aus dem Wirthshause heimkehrte, entludensich entweder die Wolken, die sich dort auf seinerJupiterstirn zusammengezogen, in einem Gewitter widerseine Gattin, oder der heitere Sonnenglanz des politischenHimmels, den er heimbrachte, ergoß sich in Anekdoten undhomerischem Gelächter über die Seinen. So wurden wirin dieser Beziehung gegenseitig quitt. Außerdem gab ichihm bei den Wahlen zum Landtag stets meine Stimmezum Wahlmann in der ersten Klasse und nahm in jedem