Die Mutter

Blätter aus dunklen Tagen von Gutti Alsen

1922
Im Wir Verlag · Berlin NW 87

Dem Andenken meiner Eltern!

Titelholzschnitt von Konrad Elert
Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1922 by Wir Verlag, Berlin NW 87
Gedruckt 1921 in der Alt-Fraktur von
Herrosé & Ziemsen, GmbH. & Co.
in Wittenberg (Bez. Halle)

I.

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1918.

Wie seltsam dies alles war am Tage, der dieser Nacht voraufging!Und wie es mir jetzt, da ich den verfallenden Stimmennachlausche, als ein gleichgestimmter Klang erscheint! Gell,schneidend, aufrührend! In blanker Frühe die Nachricht vomAusbruch der Revolution. Tagsüber der schreiende Regensturmin den gekrümmten Gassen der alten Seestadt. Am wundgepeitschtenAbend die Aufführung des gewalttätigen Stückes,dem die Menge zum Schluß wie in Besessenheit Beifall kreischte.Und endlich der Rausch der drei Jünglinge neben mir beim Heimwegim wehen Abendnovember!

Oft, im schleichenden Gehen der langen, unendlichen Jahredes Krieges hatte ich in Gedanke und Rede dem Wunsche Ausdruckgegeben, sie mögen ein Ende machen, die Soldaten allerLänder. Unpolitischer als ein halbwüchsiger Knabe, hatte ichmit diesem Anruf einer fremden Macht gespielt, wie ein geschlagenesKind etwa, das, um straffrei zu bleiben, Kaiser zuwerden bittet. Nun meiner Bitte Gewährung geschah, stehe ichdiesem Zustand genau so verängstet, genau so hilflos gegenüberwie das Kind, dem kaiserliche Gewalt verliehen wäre.

Das also ist das Gesicht der Revolution am ersten Tageihrer Geburt! Elf Mann, deren Namen unerforschbar blieben,hatten in vergangener Nacht die Herrschaft der Handelsstadt ansich genommen, kampflos, mit einer großartigen Selbstverständlichkeit.Die tags zuvor noch Gebieter des Volkes geheißen,waren zu Hunderten hingemäht, wie hohe Halme von einem einzigenSichelschlag. Durch die nassen windigen Gassen aber brodeltenden ganzen Tag die Stürze der Volksmassen, oder siestauten sich an einem Platze um irgendeinen Redner, dessen Worte am Sturm zerbrachen. Jünglinge mit brennenden Augenund großen Gebärden gaben Freudenschreie in den Tumult.Flieger beschütteten die Menge in knappen Zwischenräumen mitweißen Blättern voll flammender Überschriften. Autos mitbrandroten, klatschenden Fahnen trugen in toller Fahrt halbwüchsigeBurschen an irgendein geheimnisschwangeres Ziel.

Ich aber strich mit schweren Gliedern und mattem Herzschlagan den Häusern hin, die hinter dieser Empörung der Menschenund der Elemente düsterten, und sah junge, blutstrotzendeOffiziere erbleichen, weil ihnen lärmende Buben in aufsehenerregenderArt die Zeichen ihre Standes abrissen und mit demStraßenschmutz mengten. Ich sah einen weißhaarigen, hohenMilitärsmann, mit Tränen auf den Wangen und gespreiztenFingern um die Vergünstigung betteln, seine Entehrung in einemHausflur vornehmen zu dürfen ... mit eigenen Händen. »Ichhabe sie fast fünfzig Jahre getragen«, stammelte sein verblaßterMund, während die gekrampften Hände sich zu den Achselklappenund der Kokarde zu heben mühten und sein ganzes blutentleertesGesicht in Schmach und Schwachheit zuckte. Und – o Wandelbarkeitder menschlichen Empfindungswelt – mein Gefühl, dassich bislang gegen dieses mittelalterliche Bleibsel gerichtet hatte,flog ihnen heute, als den Getretenen, in warmer Wallung zu.

Da wandte ich mich von der Stadt ab und von dieser Erhebungdes Volkes, die neue Gewaltsamkeit an Stelle der altensetzte, und strebte

...

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