Der Mann von vierzig Jahren

Ein kleiner Roman
von

Jakob Wassermann

S. Fischer, Verlag, Berlin
1913
Erste bis zehnte Auflage.


Man weiß von Sternen, die ohne ergründbareUrsache ihr Licht verlieren, um entweder fürkurze Frist oder für immer in die Finsternis desunendlichen Raums zu entschwinden; so gibt esauch Menschen, deren Schicksal von einem gewissenZeitpunkt ab in Dämmerung und Dunkelheit gleitet.

Ein solcher Mann war der Herr von Erfft undDudsloch, der gegen das Ende der sechziger Jahredes vorigen Jahrhunderts zwischen Würzburg undKitzingen im unterfränkischen Kreis lebte. SeineWirtschaft und seine häuslichen Angelegenheiten befandensich in gutem Stand; obwohl es ihm versagtwar, einen Luxus zu entfalten, nach dem ersich bisweilen in müßigen Stunden sehnen mochte,erlaubten ihm seine Vermögensverhältnisse doch,alle Wünsche zu befriedigen, die durch phantasievolleNeigung oder eingefleischte Gewohnheit in ihmlebendig erhalten wurden. Die beiden Güter warfenein ansehnliches Erträgnis ab, die hypothekarischeBelastung einzelner Grundstücke und Neubautenwurde mit jeder Ernte geringer, und ein Kapital,das aus der Mitgift der Frau und den allmählichangewachsenen Ersparnissen bestand, war in einemWürzburger Bankhaus niedergelegt. Sylvester vonErfft konnte mehrere Reitpferde und einen Kutschierwagenhalten, konnte ein ziemlich ausgedehntesWaldland pachten, um sich dem Vergnügen der Jagdhinzugeben, konnte mit Agathe, seiner Lebensgefährtin,kleine Reisen nach einer nördlich oder südlichgelegenen Residenz unternehmen, weil hier einKonzert, ein Theater, dort ein geselliger Zirkel lockte,und war vor allem nicht daran gehindert, seineBibliothek zu bereichern, denn er war ein Mannvon Kenntnissen und lebhaften Interessen.

Doch an alledem fand sein heftiger Tätigkeitstriebkein Genügen. In seiner Jugend hatte ermehrere Jahre in England verbracht, und nachdemer geheiratet hatte und landsässig geworden war,beschäftigten ihn lange Zeit hindurch allerlei Reformpläne;er wollte das Pachtwesen und die Ökonomieverwaltungnach englischem Muster einrichten; erregte Versammlungen der Bauern an, in denen ervorschlug, daß sie sich gegen den drohenden Industrialismusund die wirtschaftliche Ausbeutung alsstarke Gemeinschaft zur Wehr setzen möchten; erging sogar damit um, die Erbfolge in den deutschenAdelsfamilien nach dem Vorbild der englischenAristokratie umzugestalten und richtete eine Eingabean den König, die von weitem Blick und Sachkenntniszeugte, aber nicht im mindesten beachtetwurde, sondern ihm, als etwas davon verlautete,unter seinen Standesgenossen Feindseligkeiten undSpöttereien zuzog. Sein Schwager, der Majorvon Eggenberg auf Eggenberg, stellte ihn sogarwegen dieser närrischen Schrift, wie er sich ausdrückte,zur Rede; Sylvester schlug es ab, sich zurechtfertigen, und lächelte nur, als der Major ihmsagte, wenn er einen so unbändigen Tatendrangverspüre, möge er sich doch wählen lassen und alsAbgeordneter nach Frankfurt gehen. Der Herrvon Bismarck sei ja im Begriff, Deutschlands leibhaftigesUnglück zu werden, und man braucheMänner im Kampf gegen diesen Drachen.

Von so beschaffener Politik wollte Sylvesternichts wissen. Mehr als eine höfliche Teilnahmekonnte er denen nicht widmen, die das Räderwerkder Staatsmaschine in Gang setzten; wer gut regierte,war ihm schätzbar, den schlechten Herrn machteneifrige Diener nicht besser. »Ich liebe meine Heimat,«pflegte er zu sagen, »die Erde, die mich trägt undnährt, aber es ist mir gleichgültig, was diese Erdeauf den Landkarten für einen Farbenrand hat, undkein Minister kann von mir verlangen, daß ich ihmmeine Steuern mit einem patriotischen Jubelgesangbezahle.« Wie so viele aufgeklärte und überlegeneGeister verstand er seine Zeit nicht recht. Es schieni

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