Eine gewitterschwüle Juninacht. In der Kabineunten hatte ich es nicht ausgehalten. Die eingeschlosseneLuft legte sich zentnerschwer aufKopf und Brust, und das melancholisch eintönige Anschlagender Wellen an die Fenster preßte mir das Herzzusammen, als ob das Unglück selbst es in seinen hartenHänden hielte.
»Ich bin seefest,« hatte ich der warnenden Stewardeßzugerufen, als ich die schwankende Treppe hinaufgestiegenwar. Zwei-, dreimal atmete ich auf, tiefund schwer, wie nach überstandener Anstrengung, ehe ichmich in den Korbstuhl fallen ließ. Am Himmel jagte,vom Wind gepeitscht, ein schwarzes Wolkenheer. Dunkelund drohend rollten die Wellen dem Schiff entgegen.Kein Mondstrahl spiegelte sich in ihnen, kein Sternerleuchtete das finstere Firmament. Langsam verschwandenam Horizont die Küste von Holland und mit ihr dieletzten freundlichen Lichter.
Ich war allein — ganz allein. Ich sammelte meineGedanken, die das Fieber der letzten Tage durcheinandergewirbelthatte wie der Sturm die Schaumperlen aufdem Wasser. War das Gebäude meines neuen Lebens,das ich mir droben auf den Bergen mit eigenen Händenstolz und selbstsicher errichtet hatte, nichts als ein Kartenhausgewesen, das ein Stoß mit der Hand umzuwerfenvermochte? Ich griff suchend in die Tasche meinesMantels, es war kein Traum, sondern grausame Wirklichkeit:meiner Mutter Brief knisterte noch darin. Ichkonnte ihn auswendig. Schon auf der Fahrt von Grainaunach Berlin hatte ich ihn gewiß zehnmal gelesen.
»Es ist mir, Gott sei Dank, möglich gewesen, DeinenBrief ohne Wissen Deines Vaters in die Hand zu bekommen,«hieß es darin, »und ich schreibe Dir ingrößter Hast, Gott anflehend, daß es meinen Wortengelingen möchte, das Schrecklichste von uns allen abzuwenden.Was ich immer schon fürchtete, als ich mitanhören mußte, wie Dein verstorbener Mann und Duunseren Herrn und Heiland verleugnetet, und in Euren›Ethischen Blättern‹ las, wie Ihr immer wieder für dieUmsturzpartei eintratet, das ist jetzt geschehen. DerSamen, den Georg in Deine Seele streute, ist aufgegangen:kühl und geschäftsmäßig, als handle es sichum den Plan eines Spaziergangs, teilst Du uns mit,daß Du Deine Redaktionsstellungen aufgegeben hast, umDich ganz und gar der Sozialdemokratie in die Armezu werfen. Deine große Verirrung, Dein Unglaubehaben Dich, wie es scheint, für alles, was Pflicht, Gehorsam,Liebe und Rücksicht heißt, blind und taub gemacht,sonst müßtest Du wissen, daß Du mit einemsolchen Schritt Deinem ganzen bisherigen VerhaltenDeinen Eltern, Deiner Familie gegenüber die Kroneaufsetzest. Dieser Partei, die alles besudelt und mitFüßen tritt, was uns heilig ist: Gott und Christentum,Familie, Ehe, Monarchie und Militär, sollen wir unserKind überlassen? Es wäre in dem Augenblick für unsgestorben! Aber freilich, das ist Dir einerlei, Du wirfstleichten Herzens alles über Bord, was Deinem Eigensinn,Deinem Ehrgeiz, Deiner Eitelkeit hindernd in denWeg tritt. Wenn Du aber damit Deinen armen Vatermordest — von mir will ich gar nicht reden, eineMutter scheint dazu da zu sein, daß die Kinder sie mitFüßen treten —, wirst Du auch dann noch Deiner Selbstherrlichkeitfroh werden können?! Du weißt, daß es ihmin letzter Zeit gar nicht gut geht. Vor ein paar Tagenfiel er vom Pferd; er sagt, er sei gestürzt, BruderWalter aber, der dabei war, ist überzeugt, daß es einleichter Schlaganfall gewesen ist. Die kleine Braune,deren Ruhe du kennst, machte keinerlei Bewegung, erglitt eben einfach aus dem Sattel. Seitdem leidet eran Schwin