von
Julius von Voß.
Berlin, 1821.
In der Sanderschen Buchhandlung.
Kurstraße No. 51.
Ein Sittengemälde.
Zwanzig Jahre sind eben so viele Umläufedes Erdballs um die Sonne; regelmäßig istdie Wandlung, auf eine Minute voraus zuberechnen, in welchem Abstand er sich andiesem oder jenem Tage von der Sonne, auchvon allen bisher entdeckten Planeten befindenwird. Es kann der Mensch stolz seyn, daßer so erhabner Berechnungen fähig ist; sieunterscheiden ihn von dem sprachlosen Thier.Stets kehren die Jahreszeiten regelmäßigwieder, und die veränderte Witterung hängtan atmosphärischen Ursachen, die genau derMensch noch nicht ergründen konnte. Im Allgemeinensind diese Abweichungen aber nicht bedeutend, und man wird doch ziemlich voraussagenkönnen, welch ein Ansehn die Naturan diesem oder jenem Orte, in einemoder dem anderen Monate, haben wird.
Nicht so ist es bei dem Menschen. Erverfolgt auch einen Gang, dem an sichFrühling, Sommer, Herbst und Winter zugetheiltsind; übrigens hat sein Leben aberso wenig Regelmäßigkeit, und die Zukunft läßtsich so ungewiß aus der Gegenwart bestimmen,daß oft eine ganz andere Erscheinung,als die gehoffte, eintreten wird. Nach einemZeitraum von zwanzig Jahren darf nur –wer so lange denken kann – sich fragen:welche Bekannte hatte ich, als dieser Zeitraumanfing? Was ist aus ihnen geworden;und wie hofften und glaubten sie einst,daß ihrem Wünschen und Streben die Fügungentsprechen würde? Aus den vorhandenenThatsachen werden nun die Beantwortungenhervorgehn, und nicht wenig in Erstaunensetzen.
Auf die allmähligen Veränderungen,welche in zwanzig Jahren mit unsern Bekanntensich zutragen, achten wir bei demAllen viel zu wenig, als daß unsdie entstandnen Kontraste zwischen Ehedemund Jetzt recht deutlich ins Auge fielen. Wodie Farben nach und nach sich umwandeln,befremdet es endlich kaum noch, wenn ausdem Weiß ein Schwarz sich hervorgebildethat; doch wer aus dem Mittag jähling indie Mitternacht träte, oder aus dem Juliusin den Februar, könnte von auffallendenGegensätzen der Ansicht reden.
So auch, wenn wir die Bekannten inzwanzig Jahren nicht gesehn, auch währenddieser Zeit nicht das Mindeste von ihnengehört haben. Diese Erfahrung sollte ichmachen, und ich entnahm daraus, wie vielmerkwürdiger noch es seyn muß, wenn derZeitabschnitt dreißig oder noch mehr Jahrebeträgt.
Ich wurde in einer Stadt mittlern Umfangs in Deutschland geboren. Mein Vaterbekleidete das Amt eines Rathsherrn,und stand in ausgezeichnetem Ansehn; theilsweil es seine Würde ihm gab, theils, weiler mit einem anerkannt redlichen Sinn eineungemein scherzhafte Laune verband, die ihnjeden Zirkel, in den er trat, beseelen, undallenthalben Freunde gewinnen ließ. Ebenso war meine Mutter, ihres gutmüthigenund feinen Betragens willen, in meiner Heimathgeachtet.
Ich hatte noch einen älteren BruderOtto, welcher die Rechte studierte, wogegenich auf einer Hochschule der Cameralwissenschaftoblag. Meine Schwester, Wilhelmine,zählte einige Jahre