Von
F. M. Dostojewski
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Übertragen von H. Röhl
Im Insel-Verlag zu Leipzig • 1921
Es war beinahe acht Uhr morgens, als der TitularratJakow Petrowitsch Goljadkin nach einem langen Schlafeerwachte, gähnte, sich reckte und schließlich völlig dieAugen öffnete. Etwa zwei Minuten lang blieb er noch,ohne sich zu regen, auf dem Bette liegen, wie ein Mensch,der noch nicht ganz ins klare darüber gekommen ist, ober aufgewacht ist oder noch schläft, ob alles, was jetztum ihn herum vorgeht, Wahrheit und Wirklichkeit istoder eine Fortsetzung seiner wirren Träume. Bald wurdejedoch Herrn Goljadkins Denken klarer und deutlicher,und seine Gefühle nahmen ihre gewöhnliche, alltäglicheStimmung an. Alles blickte ihn bekannt an: die schmutziggrünen,verräucherten, staubigen Wände seines kleinenZimmerchens, seine Mahagonikommode, die Stühle vonimitiertem Mahagoni, der rot angestrichene Tisch, das türkischeWachstuchsofa von rötlicher Farbe mit grünlichenBlümchen und endlich die gestern hastig ausgezogenenund unordentlich auf das Sofa geworfenen Kleider. Unddann schaute auch der graue, trübe, schmutzige Herbsttagso verdrießlich und mit so saurer Miene durch die ungeputztenFenster zu ihm ins Zimmer, daß Herr Goljadkinin keiner Weise mehr daran zweifeln konnte, daß er sichnicht in einem schönen Märchenlande, sondern in derResidenzstadt Petersburg, in der Schestilawotschnaja-Straße,in der vierten Etage einer sehr großen Mietskaserne,in seiner eigenen Wohnung befand. Nachdem erdiese wichtige Entdeckung gemacht hatte, schloß Herr Goljadkinwieder krampfhaft die Augen, als bedauere er,daß der Traum, den er soeben gehabt hatte, entschwundensei, und als wünsche er, ihn sich wenigstens für einenAugenblick zurückzurufen. Aber einen Augenblick daraufsprang er mit einem Satze aus dem Bette, wahrscheinlich,weil er endlich auf denjenigen Gegenstand gekommenwar, um den seine zerstreuten, noch nicht in die gehörigeOrdnung gebrachten Gedanken bisher herumgewirbeltwaren. Nachdem er aus dem Bette gesprungen war, liefer sogleich zu dem kleinen, runden Spiegel, der auf derKommode stand. Obgleich die verschlafene, kurzsichtige,ziemlich kahlköpfige Gestalt, die ihm der Spiegel zurückwarf,einen so unbedeutenden Eindruck machte, daß sieauf den ersten Blick entschieden niemandes ausschließlicheAufmerksamkeit fesseln konnte, so war doch ihr Besitzermit alledem, was er im Spiegel erblickte, anscheinendvöllig zufrieden. „Na, das wäre eine böse Geschichte,“sagte Herr Goljadkin halblaut, „das wäre eineböse Geschichte, wenn heute an mir etwas nicht in Ordnungwäre, wenn z. B. irgendetwas schlecht aussähe,ich einen störenden Pickel bekäme oder sonst eine Unannehmlichkeitpassierte; vorläufig indes ist es nicht übel;vorläufig geht alles gut.“ Sehr erfreut darüber, daß allesgut ging, stellte Herr Goljadkin den Spiegel auf seinenfrüheren Platz; er selbst aber lief, trotzdem er barfußwar und noch das Kostüm trug, in dem er sich schlafenzu legen pflegte, zum Fenster hin und begann höchlichstinteressiert mit den Augen etwas auf dem Hofe zu suchen,auf den die Fenster seiner Wohnung hinausgingen. Anscheinendbefriedigte auch das, was er auf dem Hofeerblickte, ihn vollkommen; denn sein Gesicht erglänzte voneinem selbstzufriedenen Lächeln. Nachdem e