THOMAS MANN
1964
S. FISCHER VERLAG
S. Fischer Schulausgaben
Texte moderner Autoren
255.–284. Tausend dieser Ausgabe
Copyright 1922 by S. Fischer Verlag AG, Berlin
Druck: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg
Printed in Germany
Die Wintersonne stand nur als armer Schein, milchig undmatt hinter Wolkenschichten über der engen Stadt. Naßund zugig war's in den giebeligen Gassen, und manchmalfiel eine Art von weichem Hagel, nicht Eis, nicht Schnee.
Die Schule war aus. Über den gepflasterten Hof undheraus aus der Gatterpforte strömten die Scharen der Befreiten,teilten sich und enteilten nach rechts und links.Große Schüler hielten mit Würde ihr Bücherpäckchen hochgegen die linke Schulter gedrückt, indem sie mit dem rechtenArm wider den Wind dem Mittagessen entgegen ruderten;kleines Volk setzte sich lustig in Trab, daß der Eisbreiumherspritzte und die Siebensachen der Wissenschaftin den Seehundsränzeln klapperten. Aber hie und da rißalles mit frommen Augen die Mützen herunter vor demWotanshut und dem Jupiterbart eines gemessen hinschreitendenOberlehrers…
»Kommst du endlich, Hans?« sagte Tonio Kröger, derlange auf dem Fahrdamm gewartet hatte; lächelnd trat erdem Freunde entgegen, der im Gespräch mit anderen Kameradenaus der Pforte kam und schon im Begriffe war,mit ihnen davonzugehen… »Wieso?« fragte er und sahTonio an… »Ja, das ist wahr! Nun gehen wir noch einbißchen.«
Tonio verstummte, und seine Augen trübten sich. HatteHans es vergessen, fiel es ihm erst jetzt wieder ein, daß sieheute mittag ein wenig zusammen spazierengehen wollten?Und er selbst hatte sich seit der Verabredung beinahe unausgesetztdarauf gefreut!
»Ja, adieu, ihr!« sagte Hans Hansen zu den Kameraden.»Dann gehe ich noch ein bißchen mit Kröger.« – Und die[4]beiden wandten sich nach links, indes die anderen nachrechts schlenderten.
Hans und Tonio hatten Zeit, nach der Schule spazierenzugehen,weil sie beide Häusern angehörten, in denen erstum vier Uhr zu Mittag gegessen wurde. Ihre Väter warengroße Kaufleute, die öffentliche Ämter bekleideten undmächtig waren in der Stadt. Den Hansens gehörten schonseit manchem Menschenalter die weitläufigen Holzlagerplätzedrunten am Fluß, wo gewaltige Sägemaschinenunter Fauchen und Zischen die Stämme zerlegten. AberTonio war Konsul Krögers Sohn, dessen Getreidesäcke mitdem breiten schwarzen Firmendruck man Tag für Tag durchdie Straßen kutschieren sah; und seiner Vorfahren großesaltes Haus war das herrschaftlichste der ganzen Stadt…Beständig mußten die Freunde, der vielen Bekannten wegen,die Mützen herunternehmen, ja, von manchen Leutenwurden die Vierzehnjährigen zuerst gegrüßt…
Beide hatten die Schulmappen über die Schultern gehängt,und beide waren sie gut und warm gekleidet; Hansin eine kurze Seemanns-Überjacke, über welcher auf Schulternund Rücken der breite, blaue Kragen seines Marineanzugeslag, und Tonio in einen grauen Gurtpaletot. Hanstrug eine dänische Matrosenmütze mit kurzen Bändern,unter der ein Schopf seines bastblonden Haares hervorquoll.Er war außerordentlich hübsch und wohlgestaltet,breit in den Schultern und schmal in den Hüften, mit freiliegendenund scharf blickenden stahlblauen Augen. Aberunter Tonios runder Pelzmütze blickten aus einem brünettenund ganz südlich scharfgesc