Jakob von Gunten

Ein Tagebuch
von
Robert Walser


Bruno Cassirer Berlin
1909

[1]Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften,und wir Knaben vom Institut Benjamentawerden es zu nichts bringen, d. h., wirwerden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetesim späteren Leben sein. Der Unterricht,den wir genießen, besteht hauptsächlich darin, unsGeduld und Gehorsam einzuprägen, zwei Eigenschaften,die wenig oder gar keinen Erfolg versprechen.Innere Erfolge, ja. Doch was hatman von solchen? Geben einem innere Errungenschaftenzu essen? Ich möchte gern reich sein, inDroschken fahren und Gelder verschwenden. Ichhabe mit Kraus, meinem Schulkameraden, darübergesprochen, doch er hat nur verächtlich die Achselgezuckt und mich nicht eines einzigen Wortes gewürdigt.Kraus besitzt Grundsätze, er sitzt festim Sattel, er reitet auf der Zufriedenheit, unddas ist ein Gaul, den Personen, die galoppierenwollen, nicht besteigen mögen. Seit ich hier imInstitut Benjamenta bin, habe ich es bereitsfertiggebracht, mir zum Rätsel zu werden. Auchmich hat eine ganz merkwürdige, vorher nie gekannte[2]Zufriedenheit angesteckt. Ich gehorcheleidlich gut, nicht so gut wie Kraus, der es meisterlichversteht, den Befehlen Hals über Kopf dienstfertigentgegenzustürzen. In einem Punkt gleichenwir Schüler, Kraus, Schacht, Schilinski, Fuchs,der lange Peter, ich usw., uns alle, nämlich inder vollkommenen Armut und Abhängigkeit.Klein sind wir, klein bis hinunter zur Nichtswürdigkeit.Wer eine Mark Taschengeld hat, wirdals ein bevorzugter Prinz angesehen. Wer, wieich, Zigaretten raucht, der erregt ob der Verschwendung,die er treibt, Besorgnis. Wir tragenUniformen. Nun, dieses Uniformtragen erniedrigtund erhebt uns gleichzeitig. Wir sehen wieunfreie Leute aus, und das ist möglicherweiseeine Schmach, aber wir sehen auch hübsch darinaus, und das entfernt uns von der tiefen Schandederjenigen Menschen, die in höchsteigenen aberzerrissenen und schmutzigen Kleidern dahergehen.Mir z. B. ist das Tragen der Uniform sehr angenehm,weil ich nie recht wußte, was ich anziehensollte. Aber auch in dieser Beziehung binich mir vorläufig noch ein Rätsel. Vielleicht stecktein ganz, ganz gemeiner Mensch in mir. Vielleichtaber besitze ich aristokratische Adern. Ichweiß es nicht. Aber das Eine weiß ich bestimmt:Ich werde eine reizende, kugelrunde Null imspäteren Leben sein. Ich werde als alter Mann[3]junge, selbstbewußte, schlecht erzogene Grobianebedienen müssen, oder ich werde betteln, oder ichwerde zugrunde gehen.

Wir Eleven oder Zöglinge haben eigentlichsehr wenig zu tun, man gibt uns fast gar keineAufgaben. Wir lernen die Vorschriften, die hierherrschen, auswendig. Oder wir lesen in demBuch »Was bezweckt Benjamenta's Knabenschule?«Kraus studiert außerdem noch Französisch,ganz für sich, denn fremde Sprachen oderirgend etwas derartiges gibt es gar nicht aufunserem Stundenplan. Es gibt nur eine einzigeStunde, und die wiederholt sich immer. »Wiehat sich der Knabe zu benehmen?« Um dieseFrage herum dreht sich im Grunde genommender ganze Unterricht. Kenntnisse werden unskeine beigebracht. Es fehlt eben, wie ich schonsagte, an Lehrkräften, d. h. die Herren Erzieherund Lehrer schlafen,

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